jura ratio aktuelles
Selbstständiger Kurierfahrer unterliegt Scheinselbständigkeit

28.11.2022

Urteil: Selbstständiger Kurierfahrer unterliegt Scheinselbständigkeit

Mit Urteil L 28 BA 23/19 entschied das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg am 29. Juni 2022, dass ein Kurierfahrer, der auf der Grundlage eines Rahmenvertrages unter Nutzung eines vorgegebenen Funksystems und seines eigenen Pkw nach entsprechender Vermittlung Pakete und Sachgüter transportierte und hierfür Bruttoentgelte auf der Grundlage der zuvor ermittelten Transportkilometer erhielt, sozialversicherungsrechtlich einer Scheinselbständigkeit unterliegt, mithin abhängig beschäftigt und nicht selbstständig war. In der Konsequenz bedeutet dies, dass das Unternehmen die Beiträge zur Gesamtsozialversicherung (Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung) nachzuzahlen hat.

 

 

Die Tätigkeit des Kurierdienstfahrers

Transportaufträge erhielt der Kurierfahrer per Funk. Grundlage der Tätigkeit zwischen Unternehmen und Kurierfahrer war ein Rahmenvertrag. Mit dessen Abschluss wurde ein Handbuch als Nachschlagewerk u.a. mit „organisatorischen Tipps“ sowie „Arbeitsanleitungen“ dem Kurierfahrer übergeben. Darin wurde u.a. mitgeteilt, dass die regelmäßige Teilnahme am Funkverkehr einen überdurchschnittlichen Umsatz sichere, mit der Bereitschaft des Kurierunternehmers gerechnet werde, private Angelegenheiten zu verschieben und am Funkverkehr teilzunehmen. Die von der Klägerin verwendete Funkordnung sei verbindlich, Privat- und Quergespräche untersagt. Jeder Funkordnungsteilnehmer habe sich täglich nach seinem letzten Auftrag bei der Zentrale abzumelden. Die Auftragsvergabe erfolge als erstes an einen am zuständigen Halteplatz – solche waren näher bezeichnet – freistehenden Kurier, falls dort keiner wäre, werde der Auftrag frei ausgerufen. Die Entscheidung über die Vergabe eines Auftrags obliege ausschließlich der Zentrale. Fahrschecks, bestehend aus dem Original und zwei Durchschlägen, dienten zur schriftlichen Dokumentation des Transportauftrags. Die Originale seien jeden Freitag unter Angabe der näher bezeichneten Punkte (Kundennummer, Kuriernummer, Datum usw.) in der Zentrale abzugeben.

 

Auffassung des Unternehmens als selbstständiger Kurierfahrer

Das Unternehmen vertritt die Auffassung, dass der Kurierfahrer selbstständig gewesen sei, da er auf eigene Rechnung und mit eigenem Pkw tätig war, bei der Auslieferung von Systemsendungen ein unternehmerisches Risiko getragen, keinen Weisungen unterlegen habe und nicht in die Arbeitsorganisation eingegliedert gewesen sei. Auch habe er ein Gewerbe angemeldet, könne Aufträge ablehnen und unterliege keinem Wettbewerbsverbot. Das Unternehmen habe sich als Vermittlungszentrale betätigt.

 

Das Urteil zur Scheinselbständigkeit des Kurierdienstfahrers

Das Landessozialgericht ging von einer abhängigen Beschäftigung aus. Bei der vorliegenden Art der Vertragsgestaltungen komme es für die Frage der Versicherungspflicht grundsätzlich jeweils auf die Verhältnisse während der Ausführung der Einzelaufträge an, die hier indes stets auf der Grundlage des geschlossenen Rahmenvertrages sowie des Handbuchs, dass als verbindlicher Vertragsbestandteil anzusehen sei, monatlich hinsichtlich ihrer zu bewertenden Indizien gleichförmig stattgefunden hätten und entsprechend zu würdigen seien.

 

Argumente für die Scheinselbstständigkeit des Kurierfahrers

Der Rahmenvertag und die Art und Weise der tatsächlichen Zusammenarbeit ließen wenig Freiräume in der Ausgestaltung der Tätigkeit. Der Kurierfahrer sei bereits gehalten gewesen, an der Auftragsvermittlung teilzunehmen. Aufgrund der Art und Weise der verbindlichen Auftragsvergabe auf der Grundlage der zwingend vorgegebenen Funkordnung, der Überwachung des Funkverkehrs und Sanktionierung von Verstößen, der nicht verhandel-bare Fahrpreisnennung auf der Grundlage der unter Nutzung eines Entfernungsprogramms ermittelten Transportkilometer, der verpflichtenden Auftragsausführung und Abrechnung nach Vorlage vorgegebener Transsportschecks bei monatlicher Bezahlung, sei der Kurierfahrer fremdbestimmt in die Arbeitsorganisation des Unternehmens eingegliedert gewesen. Auch habe sich der Kurierfahrer mit einem Ausweis der Klägerin legitimiert, ohne selbst als Unternehmer aufzutreten.

Für die Selbständigkeit sprechende Anhaltspunkte, Nutzung des eigenen Fahrzeugs, der mögliche, aber nicht praktizierte Einsatz von Hilfskräften, seien nicht so erheblich. So sei die praktische Relevanz u.a. der Klausel zum Hilfskräfteeinsatz nicht plausibel dargelegt worden und auch wenig realistisch. Auch die freie Wahl der Route fiele nicht ins Gewicht, zumal die Abrechnung immer – vorgegeben durch das Unternehmen – aufgrund der vom Entfernungsprogramm ermittelten kürzesten Route erfolgt sei, gleiches gelte für das Vorhandensein eines eigenen Pkw und die vertragliche Nichtgewährung von arbeitnehmertypischen Absicherungen. Den damit verbundenen Risiken stünden erkennbar keine größeren Freiheiten oder Verdienstchancen gegenüber.

Der Kurierfahrer sei daher in der Gesamtschau der Einzelumstände in die betriebliche Arbeitsorganisation des Unternehmens eingebunden und abhängig bei diesem beschäftigt.

Die Revision zum Bundessozialgericht wurde nicht zugelassen.

Sie haben Fragen zu diesem Thema? Wir helfen Ihnen gerne weiter.

Hier finden Sie uns:

Google Maps

Mit dem Laden der Karte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Google.
Mehr erfahren

Karte laden